MP3- Audio-Codierungsverfahren

Eduard Rhein, der ehemalige Chefredakteur der “Hörzu“, war Zeit seines Lebens von Technik fasziniert. Die Förderung von “audiovisuellen Techniken zum Nutzen des Zuschauers“ lag ihm besonders am Herzen. Es dürfte daher ganz in Rheins Sinne sein, dass die Eduard Rhein Stiftung immer wieder Codierungstechnologien ausgezeichnet hat. Im letzten Jahr wurden Verfahren für die Aufzeichnung von Musik und Filmen auf CDs, DVDs und Blue Ray Discs gewürdigt und vier Jahre zuvor der Codierungsalgorithmus H264/VAC für bewegte Bilder, wie er heute auf sämtlichen Smartphones zur Übertragung von Filmen Verwendung findet. Doch auch wenn diese Verfahren die gesamte Medienlandschaft revolutioniert haben, sind die Namen der zugrunde liegenden Algorithmen nur unter Experten bekannt.

Bei dem Codierungsverfahren, das die Stiftung dieses Jahr auszeichnen wird, ist das anders: mp3 ist auch Laien gemeinhin ein Begriff. Das Audiocodierverfahren hat in den 90er Jahren die Musikbranche umgekrempelt und ist heute aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Erste Ideen dazu gab es schon in den 70er Jahren. Prof. Dieter Seitzer von der Friedrich-Alexander-Universität in Erlangen, später auch Gründungsdirektor des Fraunhofer-Instituts für Integrierte Schaltungen IIS in Erlangen, wollte Musik über Telefonleitungen übertragen. Der Patentprüfer erklärte das für unmöglich. 1979 kam Karlheinz Brandenburg als Student in seine Gruppe und bekam als junger Doktorand von Seitzer die Aufgabe, zu schauen, was da möglich sei. Er bekam den Hinweis, sich doch genauer die Nutzung von psychoakustischen Prinzipien für Audiocodierverfahren anzuschauen – ein entscheidender Impuls für den späteren mp3-Standard. Gegen Ende der 80er Jahre wuchs die Gruppe stark an: Karlheinz Brandenburg, Ernst Eberlein, Heinz Gerhäuser, Bernhard Grill, Jürgen Herre und Harald Popp sowie weitere Mitarbeiter des Fraunhofer IIS und der Universität trugen in den folgenden Jahren maßgeblich zur Entwicklung des mp3-Standards bei.

Während die Entwicklungsarbeiten in Erlangen in vollem Gange waren, richtete die ISO im Jahre 1988 die Arbeitsgruppe “Motion Picture Expert Group (MPEG)“ein. Die Experten sollten einen digitalen Codierstandard für Video und Audio entwickeln. Wie in Standardisierungsverfahren üblich, nahmen verschiedene konkurrierende Gruppen teil – im Wesentlichen gab es vier Konzepte. Dem Konsortium um die Fraunhofer-Gesellschaft, AT&T und der deutschen Thomson- Brandt gelang es, wesentliche Anteile in einen der Modi (genannt Layer) des Entwurfs für den zukünftigen Standard einzubringen: 1992 wurde MPEG-Audio und damit auch mp3 – genauer MPEG-1 Layer III – zum ISO Standard erklärt. Die Forschungsarbeiten waren immer auch Feinarbeit, damit auch die letzten schwierigen Stücke an Musik perfekt klangen. Ein harter Brocken war die A-Cappella-Aufnahme von “Tom’s Diner“ von Suzanne Vega. Deshalb wird dieses Musikstück auch heute noch in einem Zug mit der Entwicklung von mp3 genannt.

Der fulminante Siegeszug von mp3 hängt eng mit der Einführung des Internets zusammen, das Anfang der 90er Jahre immer wichtiger wurde. Bedingt durch die begrenzte Übertragungsbandbreite, vor allem in den ersten Jahren, war eine effiziente Codierung der Audiodaten unerlässlich. mp3 spart fast ohne hörbare Verluste 90 Prozent der Daten ein. Es ist heute so wichtig geworden, dass es praktisch keine Abspielgeräte mehr gibt, die diesen Standard nicht beherrschen. Man findet mp3 codierte Musiktitel auf PCs, Laptops, Tablets, Smartphones, Music Playern und vor allem im Internet.

Prof. Karlheinz Brandenburg erarbeitete in seiner Zeit als Doktorand an der Universität Erlangen-Nürnberg wesentliche Grundlagen für die Audiocodierung. Seine “OCF“ (Optimalcodierung im Frequenzbereich) kann als direkter Vorgänger für mp3 gesehen werden. Von 1982 bis 1989 promovierte er an der Universität Erlangen Nürnberg. Ab 1987 unterstütze er von der Universität aus das Team, das, geleitet von Prof. Gerhäuser, am Fraunhofer IIS die Arbeiten an der Audiocodierung voranbrachte. Ab 1993 war er dann als Abteilungsleiter am IIS für die Fortführung und Vermarktung der Forschungsarbeiten verantwortlich. Seit 2000 lehrt und forscht er in Thüringen als Professor an der TU Ilmenau und Leiter des Fraunhofer-Instituts für Digitale Medientechnologie.

Die wesentlichen Beiträge Dr. Bernhard Grills betrafen die Transformation der zugrunde liegenden Algorithmen in ein praktisch anwendbares Verfahren. Dies umfasste z. B. Algorithmen zur Behandlung von schwierigen Spezialproblemen der Audiosignalcodierung, die vielfache Beschleunigung der Signalverarbeitungsalgorithmen zur Erlangung der Echtzeittauglichkeit sowie den klanglichen Abgleich des Gesamtsystems. Er war auch verantwortlich für die Integration des weltweit ersten mp3-Encoders, für den er auch große Teile der Software geschrieben hat. Bernhard Grill ist heute Leiter des Bereichs Audio & Multimedia und stellvertretender Institutsleiter des Fraunhofer IIS.

Prof. Jürgen Herre leistete als Mitglied des Kern-Entwicklungsteams maßgebliche Beiträge zur Entwicklung des mp3-Verfahrens. Einerseits war er verantwortlich für einen Teil der Echtzeitimplementierung des mp3-Codecs auf Signalprozessoren. Insbesondere aber entwickelte Jürgen Herre die sogenannte “gemeinsame Stereocodierung“ des mp3-Coders, die dafür sorgt, dass nicht nur Mono-, sondern auch Stereomusik klanggetreu und effizient verarbeitet wird. Dies wird durch eine gemeinsame Verarbeitung der Daten der beiden Stereokanäle unter Berücksichtigung psychoakustischer Phänomene erreicht. Heute lehrt und forscht er an den International Audio Laboratories Erlangen, einer gemeinsamen Einrichtung des Fraunhofer IIS und der Universität Erlangen-Nürnberg.

mp3 gehört ohne jeden Zweifel zu den bedeutendsten deutschen Erfindungen der letzten Zeit. Sehr schnell nach Einführung des Standards hat die Fraunhofer-Gesellschaft die Software über das Internet vertrieben. Das ging so lange gut, bis ein australischer Student den Code mit einer gestohlenen Kreditkarte knackte und ihn zum freien Download ins Netz stellte. Nachträglich gesehen war das nicht einmal ungünstig, denn auch deshalb setzte sich mp3 für die Audiocodierung sehr schnell durch. In den folgenden Jahren konzentrierte sich das Fraunhofer IIS auf die Entwicklung weiterer Audiocodierverfahren und verwandter Technologien und die Verwertung der standardrelevanten Patente. Die daraus generierten Einnahmen fließen nun über eine Stiftung wieder zurück in die Forschung. So schließt sich der Kreis: Auch heute arbeiten rund 200 Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen bei Fraunhofer an neuen Audiotechnologien.

Prof. Dr. Christoph Kutter
Fraunhofer EMFT und
Universität der Bundeswehr, München