Elektro-optische Basistechnologien für Flachbildschirme

Pionier der Flüssigkristalltechnologie

Der Sehsinn übertrifft alle anderen menschlichen Sinneswahrnehmungen im Hinblick auf Übertragungskapazität und Detailreichtum. Aus diesem Grund haben Bildschirme als zugehörige Mensch-Maschine-Schnittstellen eine überragende Bedeutung in nahezu allen technischen Systemen. Die heute klar dominierende Flüssigkristalltechnologie hat seit nahezu vierzig Jahren einen ungebrochenen Aufstieg erlebt, da sie als einzige unter zahlreichen konkurrierenden Technologien sämtliche Anwendungsfelder von einfachsten Siebensegmentanzeigen bis hin zu großflächigen Flachbildschirmfernsehern bedienen kann. Flüssigkristalle sind organische Substanzen, deren Einzelmoleküle wie in einem kristallinen Festkörper über makroskopische Entfernungen hinweg eine einheitliche Ausrichtung besitzen, wobei allerdings die Molekülschwerpunkte wie in einer Flüssigkeit einfach gegeneinander verschoben werden können. Aufgrund der Orientierungsordnung sind die makroskopisch feststellbaren dielektrischen und optischen Flüssigkristalleigenschaften abhängig von der Richtung der angelegten Felder. Diese Anisotropie von Dielektrizitätskonstante und Brechzahl erlaubt die Beeinflussung der Molekülausrichtung durch das Anlegen einer niederfrequenten elektrischen Spannung und kann zur Beeinflussung der Polarisationseigenschaften einer durch die Flüssigkristallschicht hindurch laufenden Lichtwelle genutzt werden. Typischerweise wird dazu der Flüssigkristall zwischen zwei mit transparenten Elektroden beschichteten Substraten eingebracht, so dass die elektrischen Feldlinien der niederfrequenten Ansteuerspannung wie in einem Plattenkondensator senkrecht zur Substratoberfläche verlaufen. Aufgrund der Transparenz der Elektroden kann dann eine Lichtwelle durch die Flüssigkristallzelle gestrahlt werden, die aus den Substraten und der die Lichtwelle beeinflussenden Flüssigkristallschicht besteht.

Für nahezu siebzig Jahre nach ihrer Entdeckung durch Friedrich Reinitzer im Jahre 1888 und die direkt darauf erfolgenden Grundlagenuntersuchungen und Namensgebung durch Otto Lehmann blieben Flüssigkristalle ein wissenschaftliches Kuriosum, welches nur einer kleinen Gruppe daran forschender Experten bekannt war. Anfang der sechziger Jahre gewann die Vision großflächiger Flachbildschirme, die wie ein Bild an die Wand gehängt werden können, zunehmend an Popularität. Basierend auf der Erkenntnis, dass dies mit der wohletablierten Kathodenstrahlröhre nicht erreicht werden könnte, wurden in mehreren Laboratorien Forschungsprojekte mit dem Ziel der Entwicklung alternativer Bildschirmtechnologien initiiert. Richard Willams und George Heilmeier von den RCA Laboratorien in den USA identifizierten Flüssigkristalle als einen interessanten Kandidaten für eine solche Alternative. Während ihrer nachfolgenden Untersuchungen entdeckten und demonstrierten sie die ersten zur elektro-optischen Modulation einer Lichtwelle brauchbaren Flüssigkristalleffekte (Domain Formation, Guest Host und Dynamic Scattering Mode), was wiederum weltweite Anstrengungen zur Entwicklung einer für den praktischen Einsatz geeigneteren Flüssigkristalltechnologie motivierte.

Mit der am 4. Dezember 1970 zum Patent angemeldeten verdrillt nematischen Zelle gelang dem Preisträger und seinem damaligen Kollegen in den Hoffmann-LaRoche Forschungslabors, Wolfgang Helfrich, der für den späteren kommerziellen Erfolg der Flüssigkristallbildschirme entscheidende technologische Durchbruch. Erst später stellte sich heraus, dass James Fergason in den USA an ähnlichen Flüssigkristallkonfigurationen forschte, diese aber erst zwei Monate nach Erscheinen einer Applied Physics Letters Veröffentlichung von Schadt und Helfrich in den USA zum Patent anmeldete. Mit Hilfe einer sogenannten Orientierungsschicht kann allen die Orientierungsschicht direkt berührenden länglichen Flüssigkristallmolekülen eine einheitliche Ausrichtung aufgeprägt werden. In einer verdrillt nematischen Zelle werden die zwei Substrate derart miteinander kombiniert, dass die auf den transparenten Elektroden aufgebrachten Orientierungsschichten eine zueinander senkrechte Ausrichtung der Moleküle auf den beiden Seiten der Flüssigkristallschicht bewirken. Somit ordnen sich die Flüssigkristallmoleküle innerhalb der Schicht in eine spiralförmige Konfiguration mit einem kontinuierlich ansteigenden Verdrillungswinkel solange keine Ansteuerspannung an die Elektroden gelegt wird. Bei geeigneter Auslegung der Zelle dreht sich der Polarisationsvektor einer durch die Zelle gestrahlten linear polarisierten Lichtwelle entsprechend der verdrillten Flüssigkristallstruktur mit. Im Falle des typischerweise verwendeten Verdrillungswinkels von neunzig Grad ist die Ausgangspolarisation also ebenfalls um ebenfalls um neunzig Grad gegenüber der Eingangspolarisation gedreht. Bei Ansteuerung der Zelle mit einer niederfrequenten Ansteuerspannung richten sich die länglichen Flüssigkristallmoleküle im Inneren der Schicht parallel zu den Feldlinien aus, was die Verdrillung und die damit zusammenhängende Drehung der Lichtpolarisationsrichtung aufhebt. Wird nun auf der Lichtaustrittsseite ein Analysator platziert so bewirkt die beschriebene Polarisationsänderung eine Änderung der hindurch tretenden Lichtintensität. Im Vergleich zu den früheren Flüssigkristalleffekten liefert dies deutlich höhere Kontrastverhältnisse bei deutlich niedrigerer Ansteuerleistung und schnelleren Schaltzeiten. Darüber hinaus können deutlich stabilere Flüssigkristallmischungen eingesetzt werden und die erzielbaren Kontraste sind relativ unabhängig von den insbesondere in der Anfangszeit der Flüssigkristalltechnologie nur schwer kontrollierbaren Zelldicken. Aufgrund der genannten Vorteile hat sich der verdrillt nematische Flüssigkristalleffekt praktisch sofort nach seiner Erfindung als Standardtechnologie durchgesetzt. Er war somit eine entscheidende technologische Voraussetzung für das Entstehen und Gedeihen der Flüssigkristallbildschirm Industrie mit einem Weltumsatz von nahezu 100 Milliarden US Dollar. Bis heute dominieren verdrillt nematische Flüssigkristallzellen den Markt bis etwa 25 Zoll Bildschirmdiagonale. Extrem großflächige Bildschirme haben höhere Anforderungen betreffend ihrer Blickwinkeleigenschaften die, durch in den neunziger Jahren entwickelte weitere Flüssigkristalleffekte, realisiert werden können. Allerdings basieren auch diese Effekte ebenfalls auf dem bei der verdrillt nematischen Zelle erstmals ausgenutzten Prinzip der durch die elektrische Ansteuerung bedingten Doppelbrechungsmodulation.

Der diesjährige Technologiepreisträger Dr. Martin Schadt hat in seiner langen und äußerst produktiven Berufslaufbahn über Jahrzehnte hinweg mit einer bemerkenswerten Konstanz herausragende Neuerungen im Bereich neuartiger elektro-optischer Funktionskonzepte für Flachbildschirmtechnologien, sowie der zugehörigen Materialien und Bauelementekonzepte erarbeitet. Bereits 1969 gelang ihm zusammen mit seinem damaligen Kollegen D.F. Williams im National Research Council; Ottawa, Canada die Herstellung der ersten organischen lichtemittierenden Diode mit Festkörperelektroden. Damit ist sein Name auch unmittelbar mit der einzigen Flachbildschirmtechnologie verknüpft, der derzeit überhaupt noch eine Chance eingeräumt wird eines Tages vielleicht die Flüssigkristalltechnologie ablösen zu können. Weitere wesentliche Meilensteine seines jahrzehntelangen Wirkens in der Flüssigkristallforschung von Hoffmann-La Roche und der im Jahre 1994 daraus hervorgegangenen ROLIC Ltd sind die Zweifrequenz Adressierung von Flüssigkristallzellen (1982), die Deformed Helix Ferroelectric und Short Pitch Bi-Stable Ferroelectric Effekte (1989, 1990) und die Erfindung der Linearen Photopolymerisierungstechnologie (1991) und ihre Weiterentwicklung zur Produktionsreife. Zahlreiche Preise und Ehrungen wie beispielsweise der Roche Forschungs- und Entwicklungspreis (1986), die IEEE Jun-Ichi Nishizawa Medaille (2008) und der Karl Ferdinand Braun Preis (1992), dem bedeutensten Preis der Society of Information Display dokumentieren die weltweite Anerkennung des Schaffens von Dr. Martin Schadt.

Die Eduard-Rhein-Stiftung ehrt mit Dr. Martin Schadt einen weltweit anerkannten und vielfach ausgezeichneten Erfinder, der über viele Jahrzehnte hinweg mehrfach entscheidende Impulse zur Realisierung der auch vom Stifter Eduard Rhein geteilten Vision eines wie ein Bild an der Wand hängenden flachen Bildschirms geleistet hat.

Prof. Dr.-Ing. Norbert Frühauf,
Universität Stuttgart